Ferdinand von Schirach - Sie sagt. Er sagt.
REZENSION
Eigenerwerb |
Sie sagt. Er sagt. Ein Titel der nicht passender hätte sein können, für eine Handlung die aktueller als eh und je ist. Leider. Unverständlicherweise. Wieder spaltet der Autor mit einer simplen Frage die Nation: wer lügt?
In diesem Theaterstück befinden wir uns in einem Gerichtssaal und verfolgen den Prozess Schlüter gegen Thiede. Katharina Schlüter hat ihren ehemaligen Geliebten Christian Thiede wegen Vergewaltigung angezeigt, dieser bestreitet die Tat. Zeugen gibt es keine und so steht Aussage gegen Aussage. Die Lesenden bekommen den Fall aus Sicht von Katharina beschrieben, erfahren alles aus ihrer Perspektive bis ins kleinste Detail. Es kommen aber auch andere Menschen vor das Gericht. So zum Beispiel die beste Freundin, die leitender Polizistin oder auch eine Psychologische Sachverständigerin. Ganz schnell merkt man das es keine Indikatoren für die Wahrheit oder die Lüge gibt. Bis zum Schluss bleibt es bei: Aussage gegen Aussage.
Von Schirach spiegelt hier perfekt die Schwierigkeit der aktuellen Probleme wieder. Selten gibt es Zeugen bei Vergewaltigungen. So gut wie immer stehen Aussage gegen Aussage und niemals ist ein Fall genau gleich wie der nächste. Was die ganze Problematik noch vergrößert und was im Roman auch von der Sachverständigerin grandios erklärt wird: das Stigma der Gesellschaft. Das Bild der Menschen die eisern an ihrer Vorstellung einer perfekten Vergewaltigung fest halten. Alles was daran abweicht ist ein eindeutiges Indiz dafür das es keine gewesen sein konnte. Weiteres, das immer noch währende Patriarchat und die Ungerechtigkeit das man einem Mann immer noch mehr glauben schenkt als einer Frau. Der Gedanke das Frauen ausschließlich Lügen und Inszenieren um sich zu rächen. Schlussendlich die Schuldzuweisung gegenüber der Opfer, welche die Tat provoziert hätten. Sei es durch ''aufreizende'' Kleidung, Flirten oder sonstiges.
Das ganze Theaterstück über fragt man sich: sagt Katharina die Wahrheit oder will sie sich Rächen? Ist die Erfahrung der Polizistin ein wichtiger Hinweis oder ein Ergebnis eines eigenen Stigma? Sind die Schilderungen Christian Thiede's wirklich so gewesen oder lügt er um sich selber zu retten? Selbst beim Cliffhanger ganz am Ende des Buches muss man sich die Frage stellen: harte Wahrheit oder Lüge als Mittel der Rache?
Das Stück endet mit einem offenen Ende. Zu einem Urteil kommt es nicht. Die Lesenden sollen selber entscheiden. Sie sollen darüber nachdenken und für sich ein Urteil fällen. Basierend auf den Aussagen: wer sagt die Wahrheit? Wie entscheidet man in so einem Fall? Wie soll das gehen mit den eigenen Emotionen? Mit eigenen Vorstellungen, Moralen und Stigmata? Mit eigenen Erfahrungen im Patriarchismus. Immer mit dem Hintergedanken: eine falsche Verurteilung zerstört ein unschuldiges Leben. Kann man einen solchen Fall überhaupt neutral und objektiv beurteilen?
Wirklich großartig fand ich die Schilderungen der psychologischen Sachverständigerin. Auch wenn ich die meisten Fakten schon einmal gehört habe, waren sie wichtig für den Verlauf der Verhandlung und haben noch einmal Einblick in diese traurige Wahrheit geben lassen. Ausserdem unterstrichen sie nochmals mehr, die verzwickte Lage in der man sich befand.
Ebenfalls großartig waren beide Plädoyers der Anwälte geschrieben. Sie trugen nochmals mehr zu der komplizierten Situation dazu und zeigten nochmal deutlich die Schwierigkeiten eines solchen Falles auf. Ebenfalls zeigten sie nochmal mehr welche Macht Worte haben können.
Alles in einem ein Buch das man in wenigen Stunden ausgelesen hat, einen aber noch Tage lang weiter begleitet und nachdenken lässt. Ein Buch das sehr wichtig in der heutigen Gesellschaft ist und viel mehr diskutiert und behandelt gehört. Klare Lesungsempfehlung!!